che2001 - 6. Jun, 01:02

Dass der Kapitalismus in seiner ständigen Selbst-Modernisierung sich diese Krise zunutze macht ist völlig unstrittig. Du hast die wichtigsten Stichpunkte ja schon genannt. Unser Staatswesen geht nicht den medizinisch vernünftigsten Weg der Pandemie zu begegnen, sondern den Weg der dem Großkapital am Genehmsten ist.

Der wahrscheinlich beste Weg, die Ausbreitung der Krankheit zu stoppen wäre ein wirklicher Lockdown ganz zu Anfang gewesen, eine komplette Ausgangssperre für zwei bis drei Wochen - Ausgangssperre im Sinne von Hausarrest für alle nicht in wirklich systemrelevanten Bereichen Beschäftigten - und im Übrigen ein Runterfahren der Produktion in der Großindustrie. Keine Schließung von Gastronomie und Sportstätten, sondern Schließung von Unternehmen vom Kaliber VW. Dass die Ansteckungsgefahr bei Leuten, die acht Stunden am Tag fünfmal die Woche nebeneinander am Band schwitzen ungleich höher ist als bei einer Stunde am Tag dreimal die Woche im Fitnesscenter ist offensichtlich. Aber die herrschende Politik organisiert nun einmal die Interessen des börsennotierten Aktienkapitals, nicht die der Mittelständler und Sportvereine.

Dementsprechend sieht auch die Vernutzung der Pandemie aus.
Sie wirkt als ein Turbo-Booster um die Digitalisierung voranzutreiben, außerdem werden ganze Branchen durchrationalisiert und neu zusammengesetzt. Sei es die Gastronomie, wo die Verdrängung der kleinen Wirtschaften durch die großen Ketten, eine McDonaldisierung - Starbuckisierung, vorangetrieben wird, seien es Flugverkehr, Eventmanagement oder der Sektor der beruflichen Bildung.

Ich mache das mal an zwei Bereichen deutlich, die mein persönliches Leben betreffen und wo ich daher zu einer besonders plastischen Darstellung befähigt bin.

In meiner Branche war es vor der Corona-Krise üblich, dass Außendiensttagungen und überregionale Meetings in einem sehr aufwendigen Rahmen stattfanden. Da wurden Marriot- Hyatt- oder Sheraton-Hotels gemietet, dazu Kongresszentren, und zusätzlich zum fachlichen Austausch einiger Hundert FirmenvertreterInnen bzw. angeschlossener Selbstständiger gab es ein Bespaßungsprogramm. Da bekochte uns dann ein Jamie Oliver, aufspielen taten Leute wie Helene Fischer, Adel Tawil oder Grönemeyer, Motivationscoachings machten Michaela May oder Alexander Huber. Für fachliche Seminare wurden spezielle Seminarhotels gebucht. Ich genoß das sehr als hedonistischer Spesenritter, tanzte nach der Tagung ab bis ins Morgengrauen.

Gibts nicht mehr, wird auch nicht wiederkommen. Alles nur noch online per Zoom oder Teams, wird auch so bleiben. Einige Ebenen höher, beim Big Management ist das auch so.

Und das heißt dann, dass Hotelgesellschaften Pleite gehen, Coaches entlassen und Airlines ihre Businessklassen reduzieren werden. Der große Besen, nach dem Ende der Pandemie mit Klimaargumenten legitimiert.


Wahrscheinlich wird im Bereich der Fitnesscenter ein Massensterben einsetzen, das hauptsächlich die kleineren und mittleren Unternehmen, nicht die großen Ketten betreffen wird. Parallel, und wirklich nur unter Corona-Bedingungen, konnte sich Peloton etablieren - die online moderierte weltweite Hometrainer-Community, deren Toptrainer schon die Popularität der weltweit erfolgreichsten DJs besitzen. Hätte ich nicht schon einen Heimtrainer und diverse Hanteln, Expander usw. und sehnte ich mich nicht so sehr nach den Mö... äh der Gesellschaft meiner Trainingstruppe wäre ich wahrscheinlich auch schon Peloton-Kunde geworden.


Dies lässt sich auf viele andere Branchen und Gesellschaftsbereiche übertragen. Es wird kräftig durchrationalisiert, wieder einmal, auf eine Art und Weise und mit einer Rabiatät, die nur durch die Coronakrise möglich wurde.

Dass allerdings die Pandemie DESWEGEN stattfindet halte ich für einen ebensolchen Trugschluss wie vor zwanzig Jahren die Verschwörungserzählungen um den 11. 09., wo ja auch nach dem Attentat auf die Twin Towers die Turbophase des Neoliberalismus eingeleitet wurde - von der Umorientierung des Flugverkehrs auf vor allem Billigairlines bis zu den Hartz-Gesetzen aktuellen bzw. aktuell erwartbaren Entwicklungen verdammt ähnlich. Verschwörungsmythen verwechseln die Landkarte mit dem Territorium, sie dringen in ihrer Fixierung auf voluntaristische "Schuldige" und Machenschaften bestimmter Unternehmen oder Regierungen nie zu einer Strukturanalyse des Kapitalismus durch.


Dass die WHO relativ kurze Zeit vor dem Auftreten von Covid 19 eine Pandemie-Stabsrahmenübung durchgeführt hatte oder dass das zunächst geheim gehaltene Papier des Bundesinnenmisteriums zur PR-technischen Bearbeitung der Bevölkerung in Richtung Panikstimmung aufrief (übrigens kein sehr starker Tobak: Ein mir vorliegendes NATO-Papier zum Umgang mit radikalen PazifistInnen aus der Zeit des Kalten Krieges ist betitelt mit: "Panikpersonen sofort elimieren!") dahingehend zu interpretieren dass die Pandemie eine "gemachte" oder "aufgebauschte" Pandemie sei halte ich für absurd.


Dass die Krise benutzt wird um eine Modernisierung und Rationalisierung gewaltsam durchzupeitschen über deren Sinn keine gesellschaftliche Debatte stattfindet ist einerseits ein Skandal, andererseits entspricht es dem Wesen des Kapitalismus. Insofern ist die personalisierte bzw. an bestimmten Akteuren festgemachte Pseudokritik der Pandemieskeptiker - auf Corodok pisst man gerade wieder gegen Drosten - eigentlich eine Verharmlosung des kapitalistischen Systems. Widerstand hat sich dann auch nur gegen die Produktionsverhältnisse und nicht gegen Hygienemaßnahmen zu richten.


Du fragtest mich danach, was ich über Häring denke. Ich habe da keine abschließende Meinung. Ich fragte ja selber auch nur, was der für einer ist, und diese Frage ist für mich noch immer offen. Aber da sind, siehe oben, andere Aspekte wichtiger.

netbitch - 6. Jun, 14:45

Das ist eine beeindruckende und gut zu lesende Analyse, es bleiben für mich aber zwei Fragen offen. Was hältst Du von dem Hielscher-Artikel, und was ist Deiner Meinung nach für die Linke zu tu?
che2001 - 6. Jun, 18:51

Nun, das Migazin ist eine der Konspirologie ziemlich unverdächtige Publikation, und Anja Hielscher schreibt das ja in einem locker-flockigen Plauderton, nicht im unheilvollen Geraune oder aufgebrachten Alarmismus. Ich traue dem WEF auch nicht über den Weg, nehme es Klaus Schwab aber andererseits ernst, dass er das mit dem Great Reset als grüner Wende, der Abwendung vom reinen Freeman-Neoliberalismus ernst meint. Aber auch ein Öko-Keynesianismus ist noch keine linke Politik. Es gibt Gründe, wachsam und mißtrauisch zu sein, aber sicher nicht so wie die Querdenker sich das vorstellen.

Was die Linke tun sollte? Beinharten altmodischen Klassenkampf führen, das, was Karlo Roth mit seinen proletarischen Zirkeln meint: Die sich weltweit permanent neuzusammensetzende Klasse erstmal dazu bewegen, ein Klassenbewusstsein zu entwickeln. Der Krankenschwester, dem Eineurojobber, der Flüchtlingsfamilie, dem Hilfsarbeiter, der Aldi-Kassiererin, dem kreditabhängigen scheinselbstständigen Handelsvertreter klar zu machen dass sie eine Klasse sind. Soziale Forderungen formulieren, die auf Teilhabe und auf Bekämpfung der Oligarchen abzielen. Von einer praktischen Umsetzung ist die Linke da sehr weit entfernt. Der Streik bei Gate Gourmet war da wegweisend.

http://www.gg-streik.de/

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