Beobachter (Gast) - 10. Nov, 16:06

Wenn man behauptet, dass es „vom Konsens einer Gesellschaft abhängig ist, was als Geschlechtlichkeit verstanden wird“, sollte man mal neuere Forschungsergebnisse konsultieren und wird finden, dass es da in allen Gesellschaften überraschend viele Gemeinsamkeiten gibt. Genau genommen so viele, dass sich diese Aussage so generell nicht halten lässt. Sehr interessant sind da die Bücher des Ethnologen Christoph Antweiler. Er sagt in einem Interview über kulturelle Universalien:

„Dass Frauen Kinder kriegen, ist selbstverständlich. Dass Frauen die Kinder aufziehen, ist dagegen biologisch nicht notwendig und trotzdem in fast allen Kulturen der Welt der Fall.“

Weitere Universalien sind etwa „Gastfreundschaft. Vetternwirtschaft. Inzestverbot: Man darf nicht Menschen heiraten, die mit einem verwandt sind. Das ist universal, auch wenn Verwandtschaft unterschiedlich interpretiert wird. Oder sexuelle Beschränkungen: Wir kennen keine Kultur, die ohne sexuelle Normen auskommt, obwohl ein Leben in Freizügigkeit immer wieder erträumt wird. Schließlich Gesten: Verneinung beispielsweise wird auf der ganzen Welt durch ein Abwenden des Kopfes ausgedrückt.“

Ein Großteil der Forschungen, auf die sich die Kulturrelativisten berufen, ist übrigens schlicht falsch. Z.B. diese:
„ZEIT Wissen: Bitte sagen Sie jetzt nicht, dass auch die zeitvergessenen Hopi-Indianer und die zyklischen Zeitvorstellungen der Inder ein Mythos sind. Darauf fußen zahlreiche Ratgeber für gestresste Manager.
Antweiler: Völliger Kokolores. Jede Kultur hat ein lineares Zeitkonzept. Es gibt zwar Wiedergeburtsvorstellungen in Indien, aber im Alltagsleben denkt jeder Inder linear, teilt also den Zeitpfeil in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und den Hopi-Mythos verdanken wir dem Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf, der behauptet hat, dass die Hopi nicht über Zukunft und Vergangenheit reden und daher auch nicht so denken. Viele Jahre später hat jemand in einer 600-seitigen Arbeit festgestellt, dass auch die Hopi Wörter für gestern und morgen kennen. Leider hat das niemand gelesen, und so blieben die Hopi-Indianer das Paradigma des extremen Kulturrelativismus.“
Über die Konsequenzen sagt er:
„Ich bin ein ziemlich unpolitischer Mensch, und daher finde ich auch die Grundmaxime des Kulturrelativismus richtig: Wir sollten nicht werten, denn alle Kulturen sind grundsätzlich gleichwertig und in sich stimmig. Ich warne aber vor übertriebenem Kulturrelativismus, der schnell in Kulturrassismus umschlägt. Der alte Rassismus hat gesagt: Wir leben in einer Welt, aber wir sind verschiedene Menschen, die gelben, die schwarzen, die roten und so weiter. Der Ultrarelativismus sagt: Wir sind alle Menschen, aber leben in völlig verschiedenen Welten, sprich Kulturen. Im Extremfall wird dann behauptet, die Kulturen seien inkompatibel und könnten sich nicht verständigen. Das ist wissenschaftlich nicht fundiert und politisch gefährlich.
http://www.zeit.de/zeit-wissen/2009/06/Interview-Antweiler

Genau das behauptet der Gender-Feminismus, dass Männer (am besten weiße heterosexuelle Männer) und Frauen (und Schwarze und Homosexuelle) inkompatibel seien. In praktische Politik umgesetzt dürfte er ähnliche Konsequnzen haben wie der klassische Rassismus, nur unter umgekehrten Vorzeichen.

netbitch - 10. Nov, 16:35

Die Perspektive des Beobachters vom Kopf auf die Füße gestellt

Das ist zwar alles sehr interessant und hinsichtlich Ethno- und Geschichtsmythen auch sicherlich voller Wahrheit, hier ist nun allerdings die Schlussfolgerung Kokolores. Der dekonstruktivistische Feminismus behauptet nicht, dass Männer und Frauen inkompatibel seien, sondern dass die biologistischen Rollenzuweisungen, die es für diese in den meisten Gesellschaften gibt, unfrei machen und überwunden werden sollten, auch, dass es "die Frau" und "den Mann" als Charaktertypus nicht gibt und wir unsere Vielseitigkeit und Variantenreichheit als Menschen überhaupt erst entfalten oder neu entwickeln müsssen. Dabei ist aber alle Gesellschaftlichkeit in unserer aktuellen Gesellschaft von einer patriarchalen Grundmatrix geprägt, die dafür sorgt, dass Frau und Mann sich nicht von gleich auf gleich begegnen, das gilt ebenso für homo-hetero und schwarz-weiß. Diese gesellschaftliche Ungleichheit wird wiederum als das zu Überwindende betrachtet, wobei sich exemplarische feministische Perspektiven/Debatten normalerweise primär mit den Hinderungsgründen für die Überwindung befassen.
John Dean (Gast) - 10. Nov, 17:59

Der Kropf und die Füße

Ich denke, ich glaube wirklich, man nähert sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit stärker, wenn man sich nicht für jedes menschliche Lebewesen zwei oder drei "Füße" vorstellt, sondern sogar hundertfache "Füße" - wie bei einem Tausendfüßler, und im Gegensatz zu diesem sind die diskriminierenden "Füße" unterschiedlich lang, abhängig vom Untergrund - und mitunter sogar von der Uhrzeit.

Also nicht nur:

mann - frau
schwarz - weiß
homo - hetero (je nach Umfeld)

auch:

arm - reich (z.B. es soll auch wohlhabende Homosexuelle geben)
braun - schwarz (kommt vor)
weiß - weiß (weiß und weiß kann ausgesprochen zweierlei sein)
bisexeell - monosexuell
dick - dünn
behindert - unbehindert
trübsinnig - froh
migrantisch - eingesessen
schön - hässlich
verklemmt - enthemmt
krank - gesund
jung - arm
abhängig - unabhängig
energetisch - lahm
lang - kurz
bewundert - abgelehnt
konziliant - unhöflich
kämpferisch - lethargisch
Norden - Süden
einsam - sozial eingebettet
Praktikum - festangestellt
reich - sehr reich
arm - sehr arm
imperialistisch - friedfertig
antisemitisch - gleichrangig (und nicht: philosemitisch)
technologisch - natürlich
gebildet - ungebildet
politisch aktiv - politisch inaktiv
ausgebildet - ungelernt
experimentierfreudig - konservativ
Platte - Hausbewohner
Stromanschluss zu Hause - kein Stromanschluss zu Hause
kreativ - unkreativ
ökologisch - destruktiv verbrauchend
anarchistisch - präzis mülltrennend
beleidigend - freundlich
sarrazinistisch - vorurteilsfrei

(und es fehlt noch sehr vieles in dieser Auflistung)

Die Perspektive zur Befreiung der Menschen ist nicht einfach die, möglichst vielen Menschen "critical whiteness" beizubiegen oder Genderstrukk zu einem ausgewachsenen Schulfach zu machen. Ich bezweifele übrigens ganz erheblich, dass das schlichte Dasein in betont "dekonstruktionistisch-feministischen" Umfeldern/Gruppen bei sorgsamer Pflege von "PoC" und "non-PoC" unvermeidlich freier abläuft. Meine teils von Erfahrungen gespeiste Vermutung geht mehr dahin, das die konkrete Lage und sichtbare wie "wirksame Befreiung" innerhalb (!) politischen Gruppen/Umfelder fast "nur" das Ergebnis von den auch dort vorhandenen Machtstrukturen ist, deren konkrete Ausgestaltung eben nicht zuletzt auch eine Frage der jeweils beteiligten Individuen ist und bleibt.

Solidarisches Verhalten ist nicht einfach nur eine Frage des jeweils favorisierten theoretischen Ansatzes.

Tja.

Ich bin mir jedenfalls völlig sicher, dass der "PoC"-Ansatz in unseren Breitengraden annäherungsweise lächerlich ist, wenn er sich als allgemeine und vorrangig zu behandelnde Perspektive behauptet. Schon beim Thema Rassismus versagt die aus US-Diskussionen importierte (und in unserem Land bei den "Betroffenen" so gut wie völlig ungebräuchliche) PoC-Perspektive auf das Lächerlichste - weil wesentliche Linien des Alltagsrassismus (z.B. die weithin vorhandenen Probleme von "weißen" Migranten, gelegentlicher Antisemitismus und ein leider nicht nur gelegentlich-seltener Islamhass als Rassismussubstitut - usw. usf.) völlig (!) verfehlt werden, zugunsten einer selbstgewiss-akadamischen Arroganz, die nicht einmal in der Lage ist, angemessene Kritik zu empfangen oder sich auf annähernd sinnvolle Weise mit anderen Sichtweisen auszutauschen.

Ich denke, die hier Beteiligten werden in etwa wissen, was ich damit meine bzw. worauf ich anspiele. Ich halte es überdies für ausgesprochen bedenklich, wenn politische Ansätze bis zum Gehtnichtmehr als vorrangig betrachtet werden, deren allererste politische Potenz in der Spaltung und Konfliktstiftung innerhalb der politischen Linken liegt.

Dennoch - und auch daran halte ich fest, auch wenn ich bestimmte Ansätze für "sehr speziell", "als Generalperspektive insgesamt ungeeignet" oder sogar "kontraproduktiv" bzw. "schädlich" halte (und das tue ich - pardon): so sind in diesen und rund um diese Ansätze wertvolle Einsichten zu finden.

So finde ich es ausgesprochen interessant, wie die arrogantesten Vertreter des PoC-Ansatzes jede konstruktive Kritik bzw. Darstellung von Unzulänglichkeiten sogleich als "white supremacy" bashen.

Das ist einfach nur derbe sick.

@ Che

Ob nun für bestimmte Gruppen eine "eigene Sprache", die nicht zuletzt abgrenzend wirkt und für eine große Mehrheit unverständlich ist, wirklich hilfreich ist, um die eigene Lage zu verstehen, politisch zu bewältigen bzw. zu überwinden: das halte ich für eine ziemlich offene Frage.

Die Erfahrung der letzten Wochen deutet mir eher in die entgegen gesetzte Richtung. Es muss nicht immer sehr nützlich sein, wenn sich Menschen kaum noch verstehen...

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