24
Nov
2007

Those were days oder Göttingen im Ausnahmezustand

Nachdem Pantoffelpunk, Telegehirn, die BLOGs, Che und Martin M. sich schon in mannigfacher Weise über Antifa-Aktionen und die Toten, die Faschoterror und Polizeigewalt so gefordert haben äußerten, möchte ich einmal darstellen, in welchem Umfeld sich die Conny-Geschichte abspielte, bzw. was danach geschah. es geht darum, dem lesenden Publikum klarzumachen, was für eine Dimension diese Dinge erreichten und dass von Testosteron- und Adrenalin-gepushten Streitigkeiten zwischen Jugendbanden wirklich nicht die Rede sein kann. Ich knüpfe also an diese Ereignisse an

http://netbitch1.twoday.net/stories/1575267/


Ich war damals im ersten Semester, und die damaligen Ereignisse waren für mein Verständnis von Politik, Staatlichkeit und gesellschaftlichem Alltag absolut prägend. Einen Tag nach Connys Tod stand auf eine Fassade der Uni gesprüht: "Tote Conny=gute Conny. Wir danken unserer Polizei!" und darunter ein Fadenkreuz. Mahnwachen an der Stelle, wo Conny zu Tode gekommen war, wurden von der Polizei attackiert und in einem Fall auch abgeräumt. An der Uni fand eine VV statt, auf der eine bundesweite Großdemo für das folgende Wochenende beschlossen wurde. Am frühen Morgen nach der Abstimmung brannte es in einem Haus, in dem Antifa-AktivistInnen wohnten. Der Brand war so gelegt, dass niemand den Flammen entkommen sollte, doch die Attentäter hatte ihre Rechnung ohne den studentischen Lebensstil gemacht: Ein Tüp, der in dem Haus wohnte, wollte um 5 Uhr morgens noch Musik hören, die dann plötzlich aufhörte, weil das Feuer die über Putz verlegte Leitung zerstört hatte. Nur deshalb wurde das Feuer rechtzeitig entdeckt und ein Massenmord verhindert. Dann fand also diese Demo statt, an der 25 000 Leute teilnahmen. Das Spektrum der TeilnehmerInnen reichte von Autonomskis bis Kirchens, es gehörten auch unheimlich viele normale Studierende dazu, wie ich ja auch. Neben der Bekundung von Trauer für Conny und Empörung über Polizeigewalt und Neonaziterror verfolgte die Demo auch eine konkrete politische Forderung: Rücktritt des Göttinger Polizeipräsidenten Lothar Will. Die Demo sollte friedlich verlaufen, mit Ausnahme der Tatsache, dass am Polizeipräsidium Feuerwerkskörper gezündet werden sollten, nicht als Sabotageakt, sondern als symbolischer Protest und als Zeichen dafür, dass man im Zweifelsfall auch anders konnte als friedlich. Entsprechend klangen die Parolen: "Conny ist ermordet - wir kämpfen weiter!" "Polizei, SA, SS!" "Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform!" "Conny und Günter, das war Mord! Kampf dem Faschismus an jedem Ort!" "Hinter dem Faschismus steht das Kapital. Der Kampf um Befreiung ist international!" "Keiner will Lothar Will! Lothar Will - born to kill!".

Insgesamt verlief die Demo friedlich und diszipliniert. Lediglich bei einem Supermarkt gingen ein paar Fensterscheiben zu Bruch, als die in einer engen Straße zusammengepferchte Masse gegen die Schaufenster gedrückt wurde, und ein paar Leute, die nicht zu den Autonomen, sondern zu den Nachtleben-Abhängerkreisen gehörten, nutzten die Gelegenheit, um Schnaps und Whisky einzuplündern. Am Schweinsgraben, wie in der Szene das Polizeihauptquartier Am Steinsgraben genannt wurde, wurden zahlreiche Kracher, Kanonenschläge und auch Sylvesterraketen auf eine leblosen, leeren Hof geschleudert, wo sie detonierten, ohne Schaden anzurichten. Unmittelbar danach versuchte die Polizei die Demo anzugreifen, behinderte sich praktischerweise aber selbst, weil eine Hundertschaft vor statt hinter den Wasserwerfern stand. So wurde der Angriff abgeblasen, und die Staatsmacht begnügte sich stattdessen, mit den Knüppeln auf die Schilde zu trommeln. Bei der Abschlusskundgebung wiurde dann versucht, die Demo einzukesseln, dem kam die Demoleitung aber zuvor, in dem der Lautsprecherwagen vom Hiroshimaplatz, wo die Kundgebung stasttfand, weiter Richtung Jugendzentrum Innenstadt (JUZI) rollte, begleitet von martialischen autonomen mit Schwarzen Helmen, teils sogar Stahlhelme und Vierkanthölzern in der Hand. Ich krawalldemounerfahrenes kleines Mädchen muss sagen, dass ich mich sehr beruhigt fühlte, solche Leute in der Nähe zu haben, die im Falle eines Polizeiübergriffs zwischen den Angreifern und mir befinden würden und vor denen die Staatsmächtigen Manschetten hatten. Vor dem JUZI schließlich erfolgte der Sturmangriff der Polizei. Unter dem Vorwand, einem von irgendwelchen Radulskis außerhalb der eigentlichen Demo in der Wiesenstraße angegriffenen Verkehrsstreifenwagen zu Hilfe eilen zu wollen, rannte eine knüppelschwingende Braunschweiger Hundertschaft durch die Lotzestraße, 300 m parallel zur Wiesenstraße, direkt auf das JUZI zu. Es war allen klar: Die wollten uns allemachen. Nun war Schluss mit friedlich, es war endgültig genug. Erst Conny getötet, dann die Jubelparole über ihren Tod, der Brandanschlag auf ein linkes studentisches Wohnprojekt, die ständigen Provokationen der Polizei während der Demo - die Attacke brachte das Fass zum Überlaufen. Die Cops wurden derartig mit Pflastersteinen, Feuerwerkskörper und auch zwei oder drei Molotowcocktails eingedeckt, dass sie in der gleichen Geschwindigkeit zurückrannten, in der sie gekommen waren. Diese Geschichte wurde unter dem Titel "Wo geht´s denn hier zur Wiesenstraße?" zu einem running gag in der linken Szene. Zwei Wochen später erschien im Göttinger Tageblatt eine großformatige Anzeige mit dem Text: "Lieber Lothar! Wir haben jetzt wieder nach Hause gefunden. Deine Braunschweiger."

- Nach diesem Zwischenfall löste sich die Demo endgültig auf, und die Autonomen zogen sich ins JUZI zurück, vor dem nun zwei Panzerwagen auffuhren, ich glaube auch, bei ei paar SEK-Beamten umgeschnallte Gewehre oder Maschinenpistolen gesehen zu haben, bin mir aber nicht sicher, weil es schon dämmerte. Es geschahen aber keine schlimmen Dinge mehr. Nach Mitternacht waren die letzten DemonstrantInnen und auch die Grünbetrachteten wieder zu Hause.

Das war Samstag vor achtzehn Jahren.
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