15
Feb
2006

Es war 1989

Und in Göttingen, wo ich mein erstes Semester studierte, war Conny nach einer Antifa-Aktion von der Polizei in den Tod gejagt worden. Die Frau, die später zur großen autonomen Kämpferin stilisiert wurde, war eigentlich eher ein nettes Partygirl. Zum damaligen Zeitpunkt gab es in Göttingen sehr viele Leute, die, abgenervt durch ständigen Glatzenterror und eingebunden in ein jugendkulturelles Milieu, das von der autonomen Szene geprägt wurde, mit ziemlicher Selbstverständlichkeit mit dem Knüppel auf die Straße gingen, wenn es darum ging, Nazis entgegenzutreten. Ich konnte mich mit der Conny gut identifizieren - das war ja eine wie ich - und war bei den meisten wichtigen Demos als Fußvolk dabei. Zu der Zeit dominierten die Autonomen auch das Nachtleben der Stadt, bzw. es polarisierte sich zwischen der linken Szene einerseits und dem Tempo-Wiener-Milieu andererseits, wobei Letzteres von FDP-nahen BWLern und Zahnmedizinschnösels angeführt wurde, die Entscheidung, in welche Kneipe und auf welche Party frau ging und welche Musik gehört wurde war eine politische Richtungsentscheidung. Im Göttingen der 90er hatten ja die 70er eigentlich noch gar nicht aufgehört, in einer vorgelagerten Dorfdisko, die Papiermühle hieß, tanzten sie sommers noch barfuß und mit Federn im Haar, und auch ich legte mir diverse Haarfärbemittel und Fußgelenkkettchen aus Messing mit Kunstperlen zu. Links sein, das war gegen Nazis sein, gute Parties feiern und auf umsonst&draußen-Konzerte gehen. Der Weg ins Berufsleben war leicht, denn viele linke Szenegestalten hatten frühzeitig ihre Wege in Werbeagenturen und Zeitschriftenredaktionen gefunden und Seilschaften aufgebaut. Göttingen in den 90ern, das war eine wilde, fröhliche, politisch korrekte "Kampf-Party" mit Durchstart in ein Berufsleben, das mit alldem nichts mehr zu tun hatte, aber auch keine großen Verbiegungen verlangte. Zugegeben, es gab jede Menge moralische Sauerköpfe, aber es war möglich, ihnen aus dem Wege zu gehen. In der New Economy lernte ich dann die chice Fraktion, die auch "Die Szene" hieß, näher kennen und stellte fest, dass die sooo schlimm auch nicht waren. Aber mit 20-27, da war ein solides Feindbild noch nötig, um die Grenzpflöcke einschlagen zu lernen, damit die Selbstbehauptung im großen ernsten Leben da draußen auch klappte.

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che2001 - 16. Feb, 21:26

Andere sind zur rechten Zeit am rechten Ort

Du bist einfach spät genug gekommen und früh genug gegangen, um die schlimmsten Spackereien gar nicht mitzubekommen.

netbitch - 16. Feb, 23:22

Und ich hatte nicht deine Verbissenheit und den Vorteil, eine gutaussehende Frau zu sein. Hach, habe ich die Kerls, ob Szene-Helden oder Dozenten um die zarten Finger gewickelt!
Die blöden Weiber allerdings, die Frau sein zum idiotologischen Programm erhoben, die allerdings *zensiert*
sjule - 17. Feb, 11:58

Wow, da muß ich ja tief in meinen Erinnerungen kramen. Ich war damals in Kassel auf der Demo nach dem "Unfall". Immobil wie man mit 15 meist so war, bin ich nie nach Göttingen gekommen (später eigentlich auch nicht), aber daß es dort richtig "abging" erzählte man sich bei uns auch immer mit jeder Menge Ehrfurcht.

netbitch - 18. Feb, 00:09

Schön, mal sowas zu lesen. Ich empfand mich, als das passierte - und ich war mittendrin - ja als das Küken!
dove from above - 22. Feb, 09:13

Ich hab die Zeit 50 Kilometer weiter in Kassel erlebt. Unsere Papiermühle war das Savoy. Als ich dann in den 90ern zum Studieren nach Süddeutschland ging, hatte ich einen richtigen Kulturschock, denn da waren die Müslifresser-Zeiten schön längst vorbei, und ich war sowas wie ein Alien. Wahrscheinlich trauere ich auch deshalb den guten alten Feindbildern, den Schlabberpullis, den Hängekettchen und der hennageschwängerten Mähne nach.

Und die Musik war einfach geiler!

netbitch - 22. Feb, 12:31

Süddeutschland kenne ich nicht, kann das also nicht beurteilen, aber es ist Grausiges zu vernehmen!
che2001 - 22. Feb, 19:19

Der Unterschied ist schon krass und für mich unerschöpfliche Kommentarquelle bei Don. Wir haben ja beide zwei verschiedene "Subkulturen", die linke Szene und die NE-VC-Welt eine WEile von innen angeschaut, aber unsere Wahrnehmungen sind da über weite Strecken nicht deckungsgleich, und das hat was mit Nord-Süd-Unterschieden innerhalb Deutschlands zu tun. Als in den 90ern Müslifressen, Schlabberlook, Henna und Hängekettchen aus der Mode kamen, wurde ja kein konventioneller Chic modisch, sondern es kamen Veganismus, Dreadlocks, Outdoorklamotten bis zum Expeditionslook und Tattoos auf, dann Piercings, Camou und Adidas-Trainingsanzüge. Leute in Versace- oder Armani-Klamotten oder im Miami Vice-Look wären in der linken Szene undenkbar gewesen. Die Gesinnungen waren aber auch anders. Wenn Don davon berichtet, die radikalen Linken in München wären Trotzkisten, Stalinisten oder Maoisten gewesen (in den 90ern!), so waren das in Nord/Mitteldeutschland ganz andere Leute. Ich würde mal sagen, dass die Mehrzahl Anarchisten waren, dann gab es Ökolinke im Stil Dithfurths und Ebermanns und viele Leute, die so eine Mischung aus Kampfsport-Bushido-Ehrenkodex, klassischem linken Antifaschismus, Feminismus, Vegetarismus und romantischer Begeisterung für kurdische oder indigene Guerrillabewegungen vertraten, ohne ein geschlossenes Weltbild zu besitzen. Und die süddeutschen Linken, ob München oder Freiburg, das begann eigentlich schon in Gießen, galten bei uns als etwas seltsam und ideologisch sehr verbiestert.
netbitch - 22. Feb, 23:43

Klar war die Musik geiler! Blue Oystercult, Metallica, Doors, Scherben, Sterne, Die Braut haut ins Auge.
@che: Ich sah die Wiener-Tempo-Leute ja eher als eine Manifestationsform der Rechten. WEnn es Linke in diesem Umfeld gab, dann wohl nur in Bayern.
che2001 - 26. Feb, 18:30

Da gibt es ja nicht nur die Nord-Süd-Unterschiede. Schau Dir einen jüngeren Menschen mit mehrfarbigen Haaren, reichlich Piercings, zerrissenen Hosen und DocMartens an, so wird der puren Wahrscheinlichkeit nach in Braunschweig diese Person ein heroinabhängiger Langzeitarbeitsloser, in Göttingen ein Kind aus gutem Hause mit wahnsinnig viel sozialem Engagement und einer ausgefeilten linken Überzeugung und in Kassel entweder Dozent in einer Kulturwissenschaft oder Bandmalocher bei VW sein.
:-)
phileas - 3. Mär, 17:10

Ach Conny.
Als das passierte, saß ich im Taxi. War der Szene so gerade eben entwachsen und in eine ziemlich frustierte Isolation entflohen.
Ich fuhr mit dem Taxi jede Menge blöde Wiener-Tempo-Tühpen durch die Gegend, die mir als Taxifahrer meinten erzählen zu sollen, daß das ja auch mal passieren mußte, das mit der Conny. Und daß die sich das ja selbst zuzuschreiben hatte.
Es war unendlich mühsam und unendlich eklig, diesen blöden Tühpen immer wieder etwas argumentatives entgegen zu halten und ihnen nicht einfach nur sagen, daß sie doch einfach die Klappe halten sollten.
Frustriert von der linken Szene vor allem in Göttingen war ich da schon jahrelang, weil ich die immer als furchtbar dogmatisch und moralisch und engstürnich erlebt habe.
Jenseits von "revoluzionärer Disziplin" war Lebensfreude nicht erlaubt.
Ich bin gerade sehr verblüfft, so ein Thema in einem Blog zu finden.

netbitch - 5. Mär, 17:03

Für mich begann damals erst die Linke-Szene-Zeit, sie war für mich eher so eine Art Durchlauferhitzer. Von einem durchgeknallten Moralismus habe ich zwar etwas mitbekommen, aber zum größten Teil war für mich damals einfach Party. Hört sich sehr merkwürdig an, wenn der Tod einer Szenefrau diese Phase einleitete, aber das Leben in dieser Szene war für mich persönlich eine schöne Sache.
el_loco - 27. Jun, 20:19

Der Abfall und Ausstieg in das "Berufsleben" fiel zu keiner Zeit besonders schwer. Ich darf auf den platten Lebenslauf unseres ex-Außenministers verweisen? Dumpf in meinem Hinterkopf, erinnere ich mich, hat Stefan Wackwitz in einem Essay (keine Ahnung wie der Titel war) die letzten standhaften Überlebenden der APO ausgemacht: die Drogensüchtigen der Frankfurter Taunusanlage, welche ohne wenn und aber Ihre Abgrenzung bis zur Selbstvernichtung durchgezogen haben. Für alle anderen Schröders, Ströbeles und Schilys war Protest nur modische Attitüde (wie das Fußkettchen). Gerade der letztere hat noch ganz andere Kapriolen hinbekommen. Bezeichnend, daß die Herren Advokaten versucht haben die Mandate der inhaftierten RAF'ler zu übernehmen? Unter uns Zuspätgeborenen: der ex-Kanzler, so wurde mir erzählt, erschien zu schleimig.

Was tät' ich ohne google: Stephan Wackwitz: "Selbsterniedrigung durch Spazierengehen". Essays. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 158 S., geb., 18,- [Euro].

che2001 - 27. Jun, 22:05

Zu manchen Zeiten fiel das sehr schwer, mir gelang es nur mit viel Glück und jahrelangen Umwegen. Solange man kein Opportunist ist, sondern an seine alten Ideale immer noch glaubt, aber trotzdem nicht in freiwilliger Selbstbeschränkung leben will ist es nicht einfach. Da waren die genannten Herren allerdings ziemlich skrupellos.
workingclasshero - 28. Jun, 15:06

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Es kommt ganz darauf an, wie alt jemand ist, um zu sagen es war leicht oder war schwer, als Linker nach dem Studium einen ordentlichen Job zu kriegen. Für die 68er war das Pipileicht, für die Generation Berufsverbot und die Generation 129a) oft extrem schwer, für die Generation danach wieder ganz leicht. Da waren die 68er ja selber schon (zumindest auf Landesebene) an der Macht, und außerdem ging es in den Auseinandersetzungen schon um nichts staatsgefährdendes mehr. Heute hat eine Generation kollektiv keine gesicherte Zukunft mehr, egal welche Gesinnung.
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